»Der dreifache Wegt«

Über die Berufung zur Nächstenliebe



Liebe auf der Anklagebank

„Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen; höher noch als die Liebe zu Menschen ist die Liebe zu Sachen und Gespenstern.“¹ So kritisiert Nietzsche die christliche Nächstenliebe.
Sein Angriff ist gut platziert. Denn er stößt mitten ins Herz des christlichen Glaubens, für den die „Nächstenliebe“ auch heute noch eines seiner wichtigsten Erkennungszeichen ist. Für den Nächsten da zu sein, ist bereits von der Bibel her ein unverzichtbares Element der christlichen Berufung: „jeder im biblischen Sinn Berufene ist um der Nicht-Berufenen willen berufen“².
Darum muss, wer eine solche Berufung leben will, für die Liebe zum Nächsten einstehen können, wenn er sich nicht den Vorwurf Nietzsches gefallen lassen will: „Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen“. Dazu lohnt es sich, zunächst den Spieß umzudrehen und zu fragen, inwiefern das Eintauschen des Nächsten gegen „Sachen und Gespenster“ selbst eine Flucht darstellt.


Die Antwort des Mörders

Der erste Mensch auf der „Flucht vor dem Nächsten“ ist Kain. Als dieser auf die Frage Gottes „Wo ist dein Bruder?“ antwortet, hat er Abel bereits erschlagen. Der Satz: „Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9) ist also bereits die Antwort des Mörders. Darin scheint ein tiefer Zusammenhang auf zwischen dem tatsächlichen Unrecht am Nächsten und der Herzenshaltung, „nicht sein Hüter“ sein zu wollen.
Leben und Lieben sind im Christentum ein und dieselbe Sache. Darum ist diese Herzenshaltung der Lieblosigkeit zugleich der beste Indikator für die innere Leblosigkeit: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder und ihr wisst: Kein Menschenmörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt.“ (1 Joh 3,14f)
Wenn wir uns einen Menschen vorstellen, der sich auf den Weg dieses inneren „Mordes“ begeben hat, lassen sich verschiedene „Fluchtwege“ denken, auf denen er der Verantwortung zur Bruderliebe ausweichen könnte: die Flucht ins Ich, ins Du, ins Wir, in die Fiktion und in die Verachtung.

a) Eine Flucht ins Ich kann viele Gesichter haben und von einer gewissen Egozentrik bis hin zu einem erklärten Egoismus reichen. Und doch zeigt sich, dass bei aller Beliebtheit narzisstischer Persönlichkeiten und ihrer Selbstinszenierung wohl die wenigsten eine explizite Ich-Zentriertheit als taugliche Lebensphilosophie durchgehen lassen würden. Die Gründe für eine Flucht ins Ich sind also eher im Unterbewussten zu suchen, aber auch gesellschaftliche Imperative tragen dazu bei, etwa die postmoderne „Kultur des Selbst“, die zwar nicht mehr an so etwas wie eine „Selbstfindung“ glaubt, aber doch den Menschen dazu bringt, sich selbst als sein eigenes „Projekt“ anzusehen, das er dauerhaft bearbeiten oder sogar „optimieren“ muss. Dabei schreitet er jedoch beständig nur seinen eigenen Horizont ab und findet sich durch seine stetige Selbstbeschäftigung auf Dauer in einer einsamen und unfruchtbaren Lebenshaltung wieder, wie man an der steigenden Zahl der Singlehaushalte oder den rückläufigen Geburtenraten sehen kann. Alfred Delp, selbst zur Einsamkeit in der Haft verurteilt, wusste dazu zu sagen: „Der Monolog war nie die gesunde und glückhafte Lebensform des Menschen. Der Mensch lebt nur echt und gesund im Dialog.“³

b) Auch durch eine Flucht ins Du kann man paradoxerweise dem Nächsten ausweichen. Man richtet sich so sehr bei ihm ein, dass man sein „blinder Passagier“ wird. Mittels einer sterilen Nettigkeit – ständig beim Du, alles „spiegelnd“, „subjektorientiert“ – wird das Du in Watte eingeschlagen, um sich nicht wirklich mit ihm befassen zu müssen. Neben dieser passiv-reservierten gibt es auch eine aktiv-grenzüberschreitende Weise des „Wohnens beim Anderen“: eine übertriebene Fürsorge, die das Du nicht in seine eigene Verantwortung kommen lässt, etwa in der entwicklungshemmenden „Übermutterung“ eines Kindes. Auch sie widerspricht aber der Liebe zum Nächsten, weil sie ihn beständig als Gegenstand des Umsorgens bei sich haben und dafür seine Berufung kleinhalten muss.

c) Eine Flucht ins Wir kann das Auflösen der Liebe in ein diffuses und vor allem unverbindliches „Wir-Gefühl“ darstellen – „seid umschlungen Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt“ dichtet Schiller. Eine Alternative ist das Delegieren der Verantwortung an eine „politische Gesinnung“, die es erlaubt, den Nächsten gegen eine politische Gruppe einzutauschen, als deren „Stellvertreter“ man sich fühlt (freilich nicht im christlichen Sinn des Wortes). Im Grunde läuft aber jedes „Wir“ Gefahr, den Nächsten auszuklammern – das dunkelste (und leider wohl auch alltäglichste) Beispiel ist das Lästern, das zwar ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt, dazu aber die Zunge in das Blut des Nächsten taucht.

d) In einer Flucht in die Fiktion wird der Nächste zum Fernsten umgemünzt. So erteilt in C. S. Lewis’ „Dienstanweisung für einen Unterteufel“ Oberteufel Screwtape seinem Zögling folgenden Rat: „Die Hauptsache ist, die Bosheit auf den allernächsten Nachbarn zu lenken, dem er tagtäglich begegnet, die Güte aber hinauszuverlegen an den fernsten Horizont zu Menschen, die er gar nicht kennt. Auf diese Weise gewinnt die Bosheit auf den allernächsten Nachbar an Wirklichkeit, während die Güte größtenteils nur noch in der Einbildung weiterlebt.“⁴

e) Während die anderen Fluchtwege eher so etwas wie eine „Schieflage“ der Liebe darstellen, also das Kippen zur einen oder zur anderen Seite, hat die Flucht in die Verachtung eine eigene Qualität. Will man sie vom Hass abgrenzen, den immerhin noch seine negative Leidenschaft mit dem Du verbindet, so hat die Verachtung für den Nächsten im wahrsten Sinne des Wortes „nichts mehr übrig“. Die Verachtung ist als „Verhärtung des Herzens“ eine grundlegende Absage an die Liebe selbst, sie richtet sich darum auch nicht mehr nur explizit gegen den Anderen, sondern auch selbstschädigend gegen sich selbst. Sie stellt den Endpunkt einer Reise in die Lieb- und Leblosigkeit dar.
Wenn aber so viele Wege von der Liebe wegführen, wie sieht dann der Weg der Liebe aus? Christlich gesehen ist er ausgesprochen im sogenannten „Doppelgebot der Liebe“.


„Liebe Gott“

Jesus sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22,37-40; vgl. Dtn 6,4f. Lev 19,18)
In diesem Anspruch sind Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe – letztere noch gesteigert zur „Feindesliebe“ (vgl. Mt 5,44) – untrennbar miteinander verbunden. Als „theologische Tugend“ ist diese dreifache Liebe zunächst ein Geschenk der Gnade Gottes. Und doch ist sie eben „Tugend“, das heißt, man kann sie lernen und – man kann sie üben.

Bei dieser Übung steht die Liebe zu Gott klar am Anfang. „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8) und aus der antwortenden Liebe des Menschen ergibt sich alles weitere: „Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.“ (1 Joh 4,11) Sie ist das „erste Gebot“ und erhält vom „Sch'ma Israel“ her zudem den Nachdruck „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken“. Gott kann man nicht „liken“, man kann ihn nur lieben. Hier wird deutlich, dass die Liebe zu Gott kein „Hobby“ für nebenher sein kann – sie ist wie die Liebe zum Nächsten eine Berufung. Tatsächlich sind diese beiden Berufungen gerade in ihrer Radikalität zutiefst miteinander verwoben, wenn Jesus sagt: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)
Die Liebe kennt also ihre eigenen Verbindlichkeiten und muss bereit sein, wie der Barmherzige Samariter, etwas zu investieren. Ansporn ist ihr dabei weniger ein internalisiertes „Gesetz“, sondern ein innerer Antrieb, eben die Tugend: das Feuer der Liebe selbst. Dieses Feuer schlägt unweigerlich zum Nächsten über, denn „je mehr man sich bemüht, Gott zu lieben, umso größer wird unweigerlich die Liebe zu denjenigen, die Gott so sehr liebt.“⁵
Das Wissen, von einem gemeinsamen Vater geliebt und gerufen zu sein, wird zur Brücke zum Nächsten – wie Alfred Delp sagt: „Vater unser: Plötzlich sind die Entfernungen überwunden. Klar und hell wird die Wahrheit, dass der Weg zu Gott – über Gott immer schon der nächste Weg zum Menschen war.“⁶


„Und deinen Nächsten“

Wie die Liebe zu Gott nur dadurch möglich wird, dass er sich durch seine Selbstoffenbarung als Liebe dem Menschen zu erkennen gibt, so eignet auch dem menschlichen Gegenüber eine gewisse Unverfügbarkeit: „Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden.“, schreibt Martin Buber.⁷
Diese Unverfügbarkeit des Nächsten, die ihren tiefsten Ausdruck in dem findet, was wir „Heiligkeit“ oder „Würde“ des menschlichen Lebens nennen, muss die Liebe unbedingt achten, wenn sie den anderen mit seiner ganzen Berufung und Freiheit erkennen will. Darum ist Liebe ohne Demut nicht möglich. Nun stellt sich jedoch die Frage, warum man den Nächsten nicht „einfach so“ lieben und achten kann – wozu braucht es den „Umweg“ über Gott?

Wenn wir sagen: „Ich liebe dich, wie du bist“ – und das durchaus als Ausdruck echter Liebe –, so haftet diesem Satz dennoch etwas Begrenzendes an, weil wir den Anderen ja nie wirklich sehen „wie er ist“. Alles, was uns unser Blickwinkel zu sehen erlaubt, ist nur der winzige und fragmentarische Ausschnitt jener Wegstrecke und Geschichte, die wir gerade mit diesem Menschen teilen. Der Andere ist uns, mehr noch als ein Rätsel, das man entschlüsseln kann: ein Geheimnis, von dem wir immer nur Puzzlestücke, Momentaufnahmen zu Gesicht bekommen. „Niemand hat Gott je gesehen“ (Joh 1,8), aber wer hat jemals „einen Menschen gesehen“? Die Einsicht, wer der Nächste ist, bleibt uns in seiner Fülle verschlossen. Auch unsere Liebe zum Nächsten ist darum (menschlich gesehen) immer endlich – er selbst aber ist es (christlich gesehen) nicht.
Tatsächlich könnte man mit C. S. Lewis sogar festhalten, dass der Mitmensch „unendlicher“ und wichtiger ist als alles andere: „Wenn aber das Christentum wahr ist, dann ist der Einzelne nicht nur wichtiger [als Nationen, Ideen usf.], sondern unvergleichlich wichtiger, denn er ist unsterblich, und verglichen mit ihm ist die Lebensdauer eines Staates oder einer Zivilisation nur ein Augenblick.“⁸ In seinen Mitmenschen kann der christlich Glaubende die Erlösten im Himmel erahnen, von denen Franz von Sales sagt: „Der Geringste unter ihnen ist herrlicher anzuschauen als die ganze Welt“ (Philothea, I,16).
Der Nächste ist durch Liebe erschaffen und wird durch Liebe erhalten, darum kann er auch nur in Liebe erkannt werden, alles andere ist Stückwerk. Darum muss der Mensch aufhören, „ästhetisch den Einzelnen um seiner Besonderheit willen oder kommunistisch ihn nur auf Grund seiner allgemeinen Menschennatur“⁹ zu lieben, und sich sozusagen der Liebe Gottes bedienen, um nicht länger nur der eigenen kleinen Repräsentation des Nächsten hinterherzulaufen, sondern ihn zu lieben „wie er in Wirklichkeit ist“ – in den Augen Gottes.

Bei aller so eingeschobenen Distanz – die einer Vergöttlichung des menschlichen Du und Abhängigkeitsbeziehungen immer widersprechen muss – ist diese Nächstenliebe keineswegs reserviert oder abgeklärt. Henri de Lubac schreibt dazu: „Die Liebe zu den Seelen ist nicht blutleer und abstrakt. Im Andern die Seele lieben heißt: seine besondere Berufung lieben, ihn so bejahen wie Gott ihn liebt, als den Einmaligen.“¹⁰
Darum bedeutet Nächstenliebe immer auch, dem Nächsten bei seiner Berufung, die er von Gott erhalten hat, zu unterstützen. Dabei darf der Liebende jedoch nicht vergessen, dass er selbst auch eine Berufung in sich trägt und sich um sie kümmern muss. Es kann Situationen geben, in denen ich selbst gerade „der Nächste“ bin, der meine Unterstützung gegenwärtig am meisten braucht. Wie wir im Flugzeug angehalten sind, uns erst selbst die Atemmaske aufzusetzen, ehe wir anderen helfen, so kann es auch im Alltag Situationen geben, in denen Selbstfürsorge die erste Priorität einnimmt. Wer Raubbau an den eigenen Kräften und am eigenen Herzen betreibt, und sei es, um für andere da zu sein, wird ihnen früher oder später mit einem ausgebrannten Herzen begegnen. Darum sind „die Liebe zu sich“ und die Nächstenliebe korrelativ.


„Wie dich selbst“

Mit der „Selbstliebe“ tun sich viele Christen schwer. Zu nachdrücklich klingt der Auftrag, „sich selbst zu verleugnen“ (Mt 16,24) und „zu entäußern“ (Phil 2,7) in den Ohren. Und doch zielt dieser Auftrag – der beide Male eine wirkliche Handlung „an sich selbst“ (griech. eauton) und kein bloß passives Erleiden meint – auf eine Selbstverleugnung in der „Gesinnung Christi“ (Phil 2,5), und kann damit keineswegs als Freibrief dienen, seine Verantwortung für sich selbst der Selbstverdammung auszuliefern.
Christi Selbstverleugnung und Kenosis zeigen aber, dass die Liebe sich verletzlich macht. Darum können wir die Nachfolge Christi nur antreten, wenn wir bereit sind, wie er die Arme auszubreiten, und sei es um den Preis, ins Herz getroffen zu werden: „Ein Glied Christi sein – der Ausdruck ist uns oberflächlich geläufig – wird ernsthaft nicht möglich sein, ohne an der Durchbohrung irgendwie teilzuhaben; ein Leib und eine Seele, die in sich geschlossen sind, die nicht bluten, gehören wohl nicht einem Christen.“¹¹
Dieses verwundbare Leben, das keinen „safe space“ kennt, scheint erst einmal ein Widerspruch zur Selbstliebe zu sein. Jedoch kann die Liebe am Vorbild Jesu, wenn sie ihre Einheit aus Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe bewahren will, nicht auf einen der Fluchtwege ausbrechen oder ihr Herz verpanzern. „Selig seid ihr, wenn ihr Unrecht spürt“, heißt es in einem Kirchenlied. Das Mitgefühl kann wie beim Barmherzigen Samariter zur Quelle der Nächstenliebe werden, ebenso aber das eigene Leid. Oft sind gerade unsere Wunden die geheime Schnittstelle zu den anderen „Geschichten der Seelen“. Menschen, die ein ähnliches Kreuz tragen, tragen oft auch eine ähnliche Berufung in sich.

Zur christlichen Selbstliebe gehört, so paradox das klingen mag, das Schauen auf diese Wunden. Sie sind der Ort, wo uns der Gekreuzigte und damit die Mitte der Menschheit begegnet. Zugleich sind sie der Weg, die Scham zu überwinden, sich helfen und beschenken zu lassen, die gerade Menschen, die viel für andere tun, oft zueigen ist. Wer überzeugt davon ist, dass es gut ist, für andere da zu sein, muss auch annehmen können, dass andere für ihn da sind.
Der Blick der Liebe scheut vor dem Schwachen und Hilfsbedürftigen nicht zurück. Babys sind die unproduktivsten Menschen, die es überhaupt nur gibt – und doch sind sie die am meisten geliebten. Eigentlich ist es kurios, dass dieselben Babys zwanzig Jahre später, sobald sie sich eine eigene Krawatte binden können, zu der Einsicht gelangen, ihr Leben sei im Grunde autonom und selbstverdankt oder werde von ihnen erst performativ hervorgebracht. Jeder Erwachsene gibt durch sein bloßes Dasein Zeugnis für eine Liebe, die ihn getragen hat, als er klein und schwach war.
Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, hat hier seinen tiefsten Ort. Ein Kind kann der Liebe seiner Mutter keine größere Achtung bezeugen, als wenn es auf sich achtgibt. Und wenn es jemandes tiefster Wunsch ist, dass ich glücklich werde, dann kann ich ihm kein größeres Geschenk machen als ebendies: Es zu sein. Mein Leben ist Gottes Geschenk an mich, was ich daraus mache, ist mein Geschenk an Gott. Das wusste die Kirche seit ihrer frühsten Zeit: „Gottes Ruhm ist der lebendige Mensch“¹².
Darum braucht es auch im christlichen Lebensentwurf eine „Selbstführung“ und „Selbstfürsorge“, die auf die eigenen Bedürfnisse Rücksicht nimmt und zu einer liebevollen Unterscheidung der Geister fähig ist. Die zeitgenössischen Begriffe „selfcare“ oder „Achtsamkeit“ kann sie dabei gut aufgreifen, solange keine Einebnung auf bloße Wellness geschieht. Und auch ein positiver „selftalk“ als Dialog mit sich selbst kann Vorbilder in der Heiligen Schrift finden, wo immer wieder das eigene Herz oder die eigene Seele zur Liebe ermutigt wird, etwa wenn David singt: „Wache auf, meine Seele! Wachet auf, Harfe und Zither! Ich will aufwecken die Morgenröte.“ (Ps 57,9 ELB)

Wer diese Ermutigung zulässt und beginnt, der Liebe Gottes zu glauben, auch – und für viele ist das schwerste – Gottes Liebe zu sich, der findet in seine Berufung. Anders als Nietzsche meinte, befindet sich die zum Nächsten eilende Liebe darum nicht auf der Flucht, sondern auf dem Weg ihrer Berufung. Die Kraft dazu gibt ihr die Gewissheit der Liebe Gottes – die große Mystikerin Lady Julian of Norwich schreibt sie uns ins Stammbuch: „Dessen nämlich bin ich sicher: wäre niemand anderer als ich allein der Erlösung bedürftig gewesen, so hätte Gott doch alles, was Er getan hat, für mich allein getan, und dasselbe sollte jede Seele denken, die ihren Liebhaber recht kennt.“¹³





Maximilian Gentgen
Studium der Katholischen Theologie in Freiburg im Breisgau, seit 2019 Ordensreferent im Zentrum für Berufungspastoral.

¹ Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, München ¹⁷2019 [KSA 4], S. 77 [im Folgenden ebd.].
² Balthasar, Hans Urs von, Verkaufe alles und folge mir nach, Einsiedeln 2015, S. 21.
³     Delp, Alfred, Im Angesicht des Todes, Würzburg ⁴2020, S. 35.
⁴     Lewis, C. S., Dienstanweisung für einen Unterteufel, Freiburg 2015, S. 50.
⁵     Foucauld, Charles de, Der letzte Platz. Aufzeichnungen und Briefe, Einsiedeln/Freiburg ⁹2006, S. 84.
⁶     Delp, Im Angesicht des Todes, S. 61.
⁷     Buber, Martin, Ich und Du, Stuttgart ¹¹1995, S. 11.
⁸    Lewis, C. S., Pardon, ich bin Christ, Basel ⁴2014, S. 92.
⁹     Balthasar, Hans Urs von, Das Weizenkorn. Aphorismen, Einsiedeln ³1989, S. 75.
¹⁰    De Lubac, Henri, Glaubensparadoxe, Einsiedeln/Freiburg ³2015, S. 37.
¹¹     Balthasar, Hans Urs von, Kommt und seht. Meditationen des Lebens Jesu, Freiburg 1983, S. 38.
¹² Irenäus von Lyon, Adversus haereses, IV,20,7.
¹³ Julian of Norwich, Offenbarungen von göttlicher Liebe, Einsiedeln ⁶2018, S. 83.