4. Mai 2022

 

Herausforderung Berufungspastoral 2022

 

Auszug aus dem Werkheft 2022, Artikel von P. Clemens Blattert SJ

 

Jedes Chaos will ein Anfang sein

 

Was sind die Herausforderungen einer Berufungspastoral im Jahr 2022? Als neuer Direktor des Zentrums für Berufungspastoral stelle ich mir selbst diese Frage und bekomme sie häufig gestellt. Meine jesuitische Prägung empfiehlt als ersten Schritt den Blick auf die Wirklichkeit bei der Suche nach Antworten. Es gilt das wahrzunehmen, was ist. Wahrnehmen im eigentlichen Sinne: versuchen die Wahrheit zu nehmen, wie sie mir entgegenkommt, ohne sie zu beschönigen.

 

Als sich die katholische Kirche vor 60 Jahren mit dem II. Vatikanischen Konzil auf einen Reformprozess eingelassen hat, war Kirche in Europa ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. In Deutschland zählten über 95 Prozent der Menschen zu einer der beiden christlichen Konfessionen. Um zur Gesellschaft (Gruppe, Dorf, Stadt, etc.) dazuzugehören, musste man quasi Teil einer Kirche sein. Diese Sichtweise hat sich in den vergangenen Jahren um 180 Grad gedreht. Mittlerweile sind in Deutschland noch 50 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirche. Unter den Jugendlichen nimmt die Bedeutung von Glaube, Beten oder Kirchenzugehörigkeit kontinuierlich ab – das zeigt die jüngste Shellstudie (vgl. Shell Jugendstudie 2019). Wir dürfen uns in diesem Punkt nichts vormachen: Die Zahl der Kirchenmitglieder wird weiter abnehmen, die Zahl der Theologiestudierenden wird weiter abnehmen, die Zahl der Anwärterinnen und Anwärter auf einen pastoralen Dienst wird abnehmen und es gibt auch keinen Grund zu der Annahme, dass die Entwicklung der Zahlen bei Ordenseintritten oder Priesterkandidaten zunehmen würde. War Kirche noch bis tief in die 90er Jahre ein anerkannter Teil der Gesellschaft, so wird Kirchenmitgliedschaft heute gefühlt rechenschaftspflichtig. Besonders die Skandale der vergangenen zehn Jahre und der Umgang damit beschleunigte die Entstehung dieses Klimas. Katholisch zu sein wird mehr und mehr als Nachteil erlebt.

Mir haben schon mehrere Personen erzählt, dass sie die Förderung durch eine katholische Institution nicht mehr in ihren Lebenslauf schreiben oder die vorangegangene Beschäftigung bei der katholischen Kirche wird bei Bewerbung auf eine neue Stelle kritisch angesprochen.

 

Inwiefern fordert diese Veränderung Berufungspastoral heute heraus? Unsere Welt, unsere Gesellschaft und damit auch unsere Kirche befindet sich in einem enormen Transformationsprozess. Es fühlt sich so an, als würde eine wunderbare Kathedrale durch ein Erdbeben nicht nur erschüttert, sondern als stürtze sie in sich zusammen. Selbst wenn ich versuchen würde, die zusammenfallenden Wände zu stützen, die Glasfenster zu bewahren und die steinernen Skulpturen zu retten – es wäre vergeblich. Ich würde mich nur selbst in Lebensgefahr bringen. Diese Form von Kirchenbau ist zu Ende. Die Rolle der Kirche in unserer Gesellschaft verändert sich. Ich glaube, das müssen wir uns nicht nur rational, sondern auch emotional klar machen.

 

Es braucht den Mut, sich zuzugestehen, dass man nicht wieder zusammensetzen kann, was zusammengebrochen ist. Es braucht den Mut, zu trauern, den Schmerz zuzulassen. Trauer ist auch eine Form der Würdigung des Guten und Schönen, was da war, aber vergangen ist. Abschied nehmen macht frei für Neues – auch wenn es ungewiss ist. Ich glaube, dass viele Blockaden, viel Wut, viele Enttäuschungen und gefühlte „Erschlagenheit“ in unserer Kirche mit der fehlenden Trauerarbeit zusammenhängen. Berufungspastoral könnte helfen, die Wahrheiten zu betrachten, Schmerz gemeinsam auszuhalten, die Gefühle, die aus Trauer und Abschied entstehen, anzuerkennen. Und vielleicht kann Berufungspastoral den Menschen dabei helfen, sich selbst zu verstehen und zu deuten. Wenn das gelingt, werden Menschen frei, sich neu vom Ruf Gottes locken zu lassen, Abschied zu nehmen, und sich seiner Führung ins Ungewisse anzuvertrauen. Jedem Chaos liegt ein Neuanfang inne.

 

Wenn ich in dieser chaotischen Gemengelage auf die jungen Menschen schaue, dann nehme ich bei ihnen einen tiefen Wunsch nach einem gelingenden Leben wahr – d. h. Talente entfalten, Zugehörigkeit spüren, eine sinnvolle Tätigkeit haben und mit sich, Gott und der Welt im Einklang sein. Gleichzeitig lebt in der jungen Generation ein starkes Gefühl der Unsicherheit, ausgelöst von drohenden Krisen, politisch, klimatisch oder gesellschaftlich. Sie fühlen sich dem Chaos hilflos ausgeliefert. Im Wunsch nach einer sich entfaltenden Lebendigkeit und im Gefühl der Überforderung suchen junge Menschen nicht in der Kirche Hilfe oder Unterstützung zur Bewältigung. Denn sie vermuten eben nicht, dass der in und mit der Kirche gelebte christliche Glaube für ihre Fragen und ihre Sehnsucht relevant oder sogar hilfreich sein könnte. Erschwerend kommt eine „Unverträglichkeit“ hinzu: Ihr fluides, an Kompetenz orientiertes Lebensgefühl kann nur schwer an die institutionell, hierarchieorientierte Verfassung der Kirche anknüpfen. Junge Menschen wollen sich einbringen, mitgestalten. Sie akzeptieren nicht, dass Ressourcen zur Gestaltung von Kirche an eine Stufe in der Hierarchie gebunden sind. Wo Kompetenz ist, soll auch Gestaltungsspielraum ermöglicht werden. Zwischen jungen Menschen und der Kirche ist eine tiefe Kluft entstanden. Infolgedessen droht uns als Kirche, eine ganze Generation zu verlieren.

 

Wie könnte sich Berufungspastoral durch die Botschaft von jungen Menschen herausfordern lassen? Ich glaube, dass diese tiefe Kluft nicht durch ein Mehr an Worten oder ein Mehr an Taten überwunden werden kann. Ein Mehr an Worten gleicht einer Inflation: Man bewirkt immer weniger. Ein Mehr an Taten gleicht nur einem wilden Schlagen mit Flügeln, ein Aktionismus, der gerade den ersehnten Ruheplatz für die eigene Suche oder die eigenen Sorgen nicht ermöglicht. Stattdessen braucht es eine neue Haltung. Das II. Vatikanum schlägt vor, als Kirche zu sagen: „Wir sind unterwegs, wir sind auf der Suche. Möchtest Du mitkommen?“ Ich denke, es wäre ein sehr einladendes Zeichen zur eigenen Suche zu ermutigen und Befähigung für diese Suche anzubieten.

 

Außerdem halte ich zwei weitere Sichtweisen für hilfreich: Erfahrung sollte Vorrang vor der Reflexion haben und Freilassen sollte zu den Handlungsgrundsätzen zählen. Das meint: Wenn junge Menschen keine tröstliche, befreiende und sinnstiftende Erfahrung durch den Kontakt mit dem lebendigen Gott selbst machen, werden sie nicht verstehen, über was wir reden. Die gemeinsame Erfahrung kann aber zur Grundlage einer gemeinsamen Reflexion werden. Gleichzeitig ist wichtig, dass die Einladung zur Suche nach der eigenen Berufung immer freilassend ist. Jeder suchende Mensch ist ein Botschafter von Gott selbst.

 

Wir als Kirche sind lernwillig und auch lernfähig. Ich denke, wenn Berufungspastoral bzw. die Gemeinschaft der Glaubenden die Kultur einer solchen Berufungssuche fördert, dann wird lebendige Kirche wachsen und die entstehende Gestalt wird sich durch vielfältige Arten und Formen von Berufung auszeichnen. Denn Berufung ist der Ruf Gottes an jeden Menschen zu einem gelingenden Leben – das hat das II. Vatikanum grundlegend verstanden.

Auch in diesem Chaos liegt ein Anfang. Im Sinne von Genesis 1: Über dem Chaos des Einzelnen wie der Gemeinschaft schwebt der Heilige Geist und will neuen Lebensgrund und neue Lebendigkeit hervorbringen.

 

In der Zukunftswerkstatt SJ in Frankfurt versucht die Berufungspastoral der Jesuiten, eine solche Berufungskultur zu fördern. Wir beobachten, dass ein ganzer Blumenstrauß an Berufungen wächst, wenn man Raum dafür lässt: Die Unternehmensberaterin Ende 20, die versucht in ihrem Bereich Christen zu vernetzen und Initiativen zu starten. Ein Zahnarzt Mitte 20, der mit Freude eine Familie gründen will. Ein Mann Anfang 30, der endlich seinem langgehegten Wunsch, ins Priesterseminar einzutreten, Raum gibt. Eine junge Frau auch Anfang 30, die ihr Berufsleben verlässt, um Ordensschwester zu werden. Wo eine Kultur der Berufungssuche gefördert wird, wächst eine Gemeinschaft von Glaubenden und entstehen echte, gelebte Berufungen – nicht Berufungen wie in den Massen der 90iger, aber sicherlich genug „Salz“, um heute der Gemeinschaft der Suchenden „Geschmack“ zu verleihen.

 

Ich nehme auch wahr, dass durch die Transformation der Welt, der Gesellschaft und der Kirche viele engagierte Seelsorgende in einer ungeheuren Spannung leben. Die Diskrepanz zwischen dem Kontakt zu den Menschen und ihren strukturellen Erfahrungen zerreißt sie fast. Eine Rolle spielen hierbei fehlende Entscheidungen oder fehlender Veränderungswille auf der Leitungsebene, Ratlosigkeit in der Anpassung von Angeboten, aber auch die Anfragen, wie man sich heute für unsere Kirche engagieren könne. Zugleich leben eine tiefe Liebe und Leidenschaft für Gott, für die Menschen und für diese Kirche in ihnen. Das alles bewirkt in den Berufenen Frustration. Ohne es zu wollen, strahlt das auf junge Menschen eher eine abschreckende als einladende Atmosphäre aus. Aus meiner Sicht braucht es daher heute zusätzlich eine Berufungspastoral für bereits Berufene. Es braucht Orte, an denen Engagierte durchatmen, Kraft schöpfen und mit ihrer Berufung wieder in Kontakt kommen können. Der Kontakt zur eigenen Berufung setzt nämlich die Dynamik von Sinnhaftigkeit, fließender Kraft und kreativem Umgang mit neuen Herausforderungen frei. Das Zentrum für Berufungspastoral in Frankfurt hat begonnen, für Einzelpersonen oder ganze Teams Auszeiten verbunden mit einem geistlichen Coaching anzubieten. Die Erfahrungen bisher sind sehr ermutigend: Hier wird spürbar, wie erstarrtem Leben durch Gott neuer Lebensatem eingehaucht werden kann.

 

Niemand weiß, wie Kirche in zehn Jahren strukturell aussieht. Die derzeitigen Veränderungen lassen nur erahnen, was die Zukunft bringt. Daher ist es zum jetzigen Zeitpunkt schwierig zu entscheiden, wo man sinnvoll investiert. Aus meiner Sicht gibt es aber ein Feld, wo Investitionen immer sinnvoll und nie umsonst sind: in Menschen. Berufungspastoral, nein, Kirche insgesamt, sollte viel in einzelne Menschen investieren, in ihre geistliche Persönlichkeitsentwicklung. Das gilt im Blick auf junge Menschen, wie auch für kirchlich Engagierte jeden Alters. Die beste und stärkste Form, um junge Menschen in ihrer Persönlichkeit zu stärken, ist aus meiner Erfahrung, sie in die Begegnung mit Gott zu bringen, ihnen zu helfen, den „Verlockungen“ des Heiligen Geistes zu folgen und sich aus dem alten Schatz der Kirche zu bedienen. Gemeinschaft motiviert, Wort Gottes belebt, Sakramente stärken, Gebet schenkt Kraft.

 

Aber auch die Seelsorgenden können durch Kompetenzerweiterung gestärkt werden, z. B. in der Ausbildung zu geistlichen Begleiterinnen und Begleitern. Bei der Jugendsynode 2018 in Rom beeindruckte mich der einhellige Wunsch junger Menschen aus der ganzen Welt nach Begleitung. Sie wünschen sich authentische Persönlichkeiten, die selbst auf einer geistlichen Suche und dadurch authentisch sind. Überall auf der Welt haben junge Menschen den Wunsch: stellt uns Begleiterinnen und Begleiter an die Seite, die mit uns durch die chaotische Lebensphase der Berufungsklärung gehen. Auch hier möchte ich als Direktor des Zentrums für Berufungspastoral einen Schwerpunkt setzen. Denn: Wo Kirche begleitet, in Freiheit Wege mitgeht, zum Selbergehen befähigt und immer wieder den Blick auf Gott und seine Verheißungen freimacht und aufzeigt, gibt sie Zeugnis vom begleitenden Gott – da wächst das pilgernde Volk Gottes schon heute, das mitten durch diese Zeit geht. 

 

Unsere Zeiten sind chaotisch. Sie fordern nicht nur die Berufungspastoral heraus, sondern uns alle. In diesem Chaos gibt es keinen Halt, indem wir uns an Zahlen oder an vergangene Bilder klammern können. Wir müssen der Versuchung widerstehen, uns gegenseitig zu misstrauen, zu konkurrieren oder zu beschimpfen. Die große Berufung, die in diesen Zeiten von Gott an uns ergeht, lautet: Vertraut mir, dass meine Schöpferkraft wirkt. Vertraut mir, dass aus Tod neues Leben wird. Vertraut einander, denn so werdet ihr die Herausforderungen meistern. Vertraut euch selbst, denn in jede und jeden habe ich einen Ruf gelegt. Gönnt euch Sabbatzeiten, denn in den kleinen und großen Sabbatzeiten werdet ihr mein schöpferisches und erlösendes Wirken erkennen, dass mit mir jedes Chaos ein Anfang sein wird.